Wir haben bereits feststellen müssen, dass die Definition des allgegenwärtigen Tierwohls schwerer ist, als gedacht. In diesem Beitrag erfahrt ihr wie die Wissenschaft versucht Tierwohl messbar und damit greifbarer zu machen. Dazu waren ich im Gespräch mit Frau Dr. med. vet. Irena Czycholl von der Uni Kiel, die ihre Doktorarbeit dem „Tierwohl“ widmete.

Tipp: Falls du den Beitrag zur Definition von Tierwohl noch nicht gelesen hast, findest du diesen hier.

Das große Ziel ist Tierwohl flächendeckend einheitlich zu definieren. Doch dorthin ist es noch ein langer Weg. Aktuell liegt die Hauptschwierigkeit in der Multifaktorität von Tierwohl.

Einflusskomponenten

In der Tierwohl-Forschung werden folgende Einflusskomponenten berücksichtigt:

physiologische Komponente

Erfassung und Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Tieres

Verhaltenskomponente

Berücksichtigung der arttypischen Verhaltensauslebung, wie das Erkundungsverhalten des Schweins (Evolution und Domestikation)

Gemütszustand

Einbezug der psychologischen Komponente und damit dem Verhältnis von positiven zu negativen Emotionen. Das Ziel ist hier nicht nur negative Empfindungen zu verhindern, sondern gezielt positive zu generieren.

Auch wissenschaftliche Ansätze, die sich auf einen der drei Komponenten fokussieren, sind eng mit den Studien der anderen zwei Komponenten verbunden. Sie können einander nicht ausschließen, sondern stehen einander völlig wertneutral gegenüber, da sie sich gegenseitig bedingen.

„Nichts geht ohne das andere.“

Czycholl, 2020

Tierwohl-Indikatoren

Auf der Frage, wie die verschiedenen Faktoren, die Tierwohl beeinflussen gemessen werden können, orientiert sich auch die Kieler Wissenschaftlerin an dem Tierwohl Bewertungsprotokoll der Welfare Quality ®. In diesen Bewertungsprotokollen (s.u.) wird Tierwohl anhand von 4 Prinzipien und insgesamt 12 Unterrubriken versucht messbar zu machen. „Versucht“, weil auch dieses Unterfangen noch in den Kinderschuhen steckt.

Grundlegend lassen sich folgende 3 Indikatortypen unterscheiden, deren Ausgestaltung in der aktuellen Forschung erprobt und ausgefeilt werden:

Indikatortypen

managementbezogen

Bsp.: Welchen Produktionsrhythmus hat der Betrieb (Tage, die es braucht,
bis Schweine gemästet sind usw.)?
Haltungssystem (Weide, Stall usw.)?

ressourcenbezogen

Bsp.: Tier-Fressplatzverhältnis (Wieviele Tiere teilen sich einen Fressplatz?), je mehr, desto größer die Gefahr von Futterraub / -neid / -selektion
Spaltenbreiten (angepasst an die Auftrittsfläche des Tieres und die Kotmenge), Ziel ist: optimale Spaltenbreiten ohne Verletzungsrisiko, aber möglichst breit genug, um anfallenden Kot nicht anzustauen)

tierbezogen

dem „Tier“ ist „wohl“, Tierwohl am Tier festmachen
Beurteilung wird derweil erforscht
Beispiele könnten hier Verletzungen und Anzeichen für Hauterkrankungen wie Scheuerhäufigkeit („Juckindex“), oder wie viele Tiere liegen korrekt in den Liegeboxen sein.

„Indikatoren sollten möglichst tierbezogen sein, da sie sich am schnellsten verändern.“

Czycholl, 2020

Das Hauptaugenmerk der Forschung liegt auf den sogenannten „tierbezogenen Indikatoren“, denn die anderen beiden anderen Faktoren sind nicht mehr als eine „Risikobeurteilung der Haltungsumwelt“. Sprich, wenn ich dem Tier mehr Platz gebe, dann kann ich damit nicht garantieren, dass das Tier in den Genuss eines höheren Tierwohlniveaus kommt. Am Tier selbst lässt sich die Qualität des Haltungssystems laut Wissenschaftlerin am besten beurteilen, denn tierbezogene Indikatoren würden sich am schnellsten verändern, wenn etwas nicht rund läuft.

„Optimale Ressourcen sind keine Garantie für mehr Tierwohl und suboptimale müssen nicht zwangsläufig weniger Tierwohl bedeuten.“

Czycholl, 2020

Wann macht eine Tierwohl-Messung nur Sinn?

Generell ist eine Messung nicht belastbar, wenn sie den folgenden drei Grundsätzen nicht standhält:

Eine Tierwohlmessung muss…

reliabel sein

die Messung muss zeitlich konstant sein, d.h. die Datenerhebung darf sich nicht zwischen Wochentagen und Tageszeit durch externe Faktoren (Prüfer, Aufmerksamkeit usw.) unterscheiden

praktikabel sein

der Stress am Tier und die Kosten für den Verantwortlichen müssen gering gehalten werden (Berücksichtigung des Kosten- und Nutzenverhältnisses)

valide sein

die angewandte Messmethode muss sich für die Messung eignen. Beispiel: Die Zeit, die ein Kalb am Euter der Mutterkuh verbringt, sagt nichts über die Milchaufnahme aus. Denn es gibt Langsamtrinker und Schnelltrinker.

Tierwohl-Messung, ein langer Weg?

Aktuell gibt es diverse Studien, die die hervorgebrachten Indikatoren auf ihre Praxistauglichkeit prüfen. Unter diesen Studien befindet sich auch das sogenannte Nationale Tierwohl Monitoring des Thünen-Instituts, dieses beschränkt sich jedoch auf weniger Indikatoren.

Ein großes Problem ist laut Czycholl neben der Suche nach passenden Indikatoren der Zeitaspekt. Nicht nur, dass die Prüfung von Tierwohl pro Betrieb ein Zeitfenster von zwei bis acht Stunden in Anspruch nimmt und damit einfach nicht massentauglich ist, auch bräuchte es aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich eine 2.0 Version der Welfare Quality ® Protokolle, denn diese haben anders als vergleichbare Studien ein breiteres Spektrum an tierbezogenen Indikatoren. Neben der Haltung berücksichtigt dieser Forschungsansatz auch die Schlachtung der Tiere.

„Weniger Indikatoren zu berücksichtigen hat Vor- und Nachteile. Eine Pauschallösung für die Problematik der Indikatoren gibt es nicht. Denkbar wäre ein Übersichtsprotokoll mit Eisbergindikatoren. Die Schwierigkeit ist, dass die gesamte Thematik neu ist.“

Czycholl, 2020

„Das staatliche Tierwohlkennzeichen könnte die Glaubwürdigkeit von Tierwohl gefährden.“

Czycholl, 2020

Über die Einführung des staatlichen Tierwohlkennzeichens ist Czycholl zwiegespalten. Auch wenn das politisch durchgesetzte übergreifende Tierwohllabel eine Vereinheitlichung der Standards bringen und so mehr Verbrauchertransparenz schaffen würde, würden die Rahmenbedingungen lediglich auf semi-wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen.

Kurz gesagt

Es ist also keine Frage, OB Tierwohl messbar ist, sondern vielmehr WIE Tierwohl zu messen ist. Dafür wurden verschiedene Ansätze und Indikatoren entwickelt, die aktuell auf ihre Praxistauglichkeit geprüft werden. Insgesamt steht die Forschung aber ganz am Anfang und daher ist eine Messung von Tierwohl aktuell nicht praxisgängig, sondern sehr zeitintensiv

Kurz gesagt

Es ist also keine Frage, OB Tierwohl messbar ist, sondern vielmehr WIE Tierwohl zu messen ist. Dafür wurden verschiedene Ansätze und Indikatoren entwickelt, die aktuell auf ihre Praxistauglichkeit geprüft werden. Insgesamt steht die Forschung aber ganz am Anfang und daher ist eine Messung von Tierwohl aktuell nicht praxisgängig, sondern sehr zeitintensiv


weiterführende Informationen zur Studie: Tierwohl-Protokolle

Im Folgenden gebe ich dir einen groben Einblick in die Studien vom „Welfare Quality ® network“:

Insgesamt werden 12 Kriterien berücksichtigt, bei denen eine gewisse Ähnlichkeit zu den 5 Freiheiten (FAWC) besteht. Einige Kriterien wirst du auch in abgespeckter Form im nationalen Tierwohl-Monitoring wiederfinden. Die Seite der Tierwohl-Protokolle findest du hier.

Welfare Quality ® network

Fütterung



Haltung (Unterbringung)



Gesundheit


artgerechtes Verhalten

  • Abwesenheit von anhaltendem Hunger (Zugang zu angemessenem und ausreichendem Futterangebot)
  • Abwesenheit von anhaltendem Durstgefühl (Zugang zu ausreichendem und erreichbarem Trinkwasser)

  • gemütliche Ruheplätze (ohne Verletzungsgefahr)
  • angepasster Temperaturbereich (Tier friert und schwitzt nicht übermäßig)
  • genügend Bewegungsfreiheit

  • Abwesenheit von körperlichen Verletzungen (ausgenommen Krankheit, tierärztliche Eingriffe und Neugeborenensterblichkeit bei Ferkeln)
  • Abwesenheit von Krankheit (inklusive Neugeborenensterblichkeit und Transportunfälle), Ziel: hohe Hygiene- und Managementstandards
  • Abwesenheit von Schmerz in Verbindung mit Arbeiten am Tier (Handling, Schlachtung, chirurgische Eingriffe usw.)

  • Ausdruck eines intakten sozial Verhaltens: Ausgeglichenheit zwischen positiven und negativen Emotionen (bspw. Aggressionen : gegenseitige Fellpflege)
  • Ausdruck von arttypischem Verhalten (ausgeglichenes Verhältnis zwischen negativen Verhaltensweisen, wie Stereotypien und positiven, wie Erkundungsverhalten)
  • intakte Mensch-Tier-Beziehung (für ein optimales stressfreies Handling)
  • positiver emotionaler Status (Vermeidung von Stress, Frust und Teilnahmslosigkeit)

Informationen zu den Indikatoren


Literatur:
Dr. med. vet. Irena Czycholl, Institut für Tierzucht und Tierhaltung, CAU zu Kiel
Thünen-Institu (o.J.): Wie sich Tiergerechtigkeit messen lässt, in: Thünen-Institut [online] https://www.thuenen.de/de/thema/nutztiershyhaltung-und-aquakultur/wie-tiergerecht-ist-die-nutztierhaltung/wie-sich-tiergerechtheit-messen-laesst/ [30.12.2020].

welfare qualty ® network (o.J.): Assesment Protocols, in: welfare quality ® network [online] http://www.welfarequalitynetwork.net/en-us/reports/assessment-protocols/ [30.12.2020].

welfare quality ® network (o.J.): Assesment protocol for cattle, in: welfare quality ® network [online] http://www.welfarequalitynetwork.net/media/1088/cattle_protocol_without_veal_calves.pdf [30.12.2020].

welfare quality network (o.J.): Assessment protocol fpr pigs, in: welfare quality network [online] http://www.welfarequalitynetwork.net/media/1018/pig_protocol.pdf [30.12.2020].

welfare quality network (o.J.): Assessment protocol for poultry, in: welfare quality network [online] http://www.welfarequalitynetwork.net/media/1019/poultry_protocol.pdf [30.12.2020].

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